Der Schatz im Kopf

Diese Woche habe ich eine sehr alte Freundin auf der Palliativstation besucht. Sie kennt mich schon mein ganzes Leben lang und ist von meiner Relilehrerin in der Grundschule zu einer guten Freundin geworden. Nun ist sie schwer krank und wurde zur Einstellung ihrer Schmerzen auf die Palliativstation verlegt. Auf dem Nachttisch lagen ein paar Bücher, deshalb fragte ich sie, wie sie ihren Tag verbringe – mit Lesen? „Nein“, antwortete sie, „Lesen kann ich nicht, mir tun die Augen so weh. Ich kann gar nichts mehr lesen. Aber ich habe ja Gedanken.“ Mitgebracht hatte ich ihr nichts außer einer Karte mit einem Spruch, von dem ich dachte, dass er ihr in ihrer Situation vielleicht gefällt. Als ich am nächsten Tag nochmal vorbeischaute, berichtete sie ganz stolz: „Annette, Deinen Spruch habe ich schon auswendig gelernt!“ Zum einen, welche Mühe musste ihr das gemacht haben, da ihr das Lesen so schwer fällt. Und zum anderen fiel mir da wieder ein, dass sie schon immer Texte auswendig gelernt hatte. Liedtexte, Gebete, treffend formulierte einzelne Sätze. Sie hatte sich ihr Leben lang einen riesigen Schatz im Kopf angelegt, um den ich sie echt beneide. Denn nun kann sie von diesem Schatz zehren. Sie kann Bilder und Texte aufrufen, aus denen sie sich Kraft und Trost holen kann. Und wer sie sieht, staunt nur, mit wie viel Geduld sie erträgt, wie ihr Körper immer schwächer wird, wie ihr immer mehr genommen wird, wie sie immer mehr Leben loslassen muss. Wie es im Korintherbrief (2 Kor 4,16) heißt: „Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“

Ich nehme mir vor, mir auch einen Schatz anzulegen und mein Gehirn nicht nur mit den Lateinvokabeln meines Sohnes und dem Frühlingslied meiner Tochter zu füttern, sondern auch mit Sätzen und Gedanken, die ich in schweren Zeiten aufrufen und von denen ich dann zehren kann. So ein bisschen wie Frederick die Maus…

(Annette)

‚“Ich arbeite doch“, sagte Frederick, „ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten dunklen Wintertage.“
Außerdem sammelte er noch Farben und Wörter – und als der Winter da war, die Vorräte fast aufgegessen und es kalt und dunkel wurde, da kann Frederick erzählen… von den Sonnenstrahlen und den Farben…‘

(Leo Lionni, Frederick)

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