Alles – nur das nicht
(von Annette)
Dieser Satz war vor Jahren Thema eines Seelsorgegesprächs, bei dem ich als Coseelsorgerin dabei war. Alles – nur das nicht. Alles darf Gott mir zumuten, nur das nicht. Alles darf passieren – nur das nicht. Alles bin ich bereit zu geben – nur das nicht. Dieses eine, was einem so wichtig, so unüberwindlich, so schrecklich erscheint, dass man sich nicht vorstellen kann, daran zu rühren.
Alles – nur das nicht, dachte ich mir auch oft in Bezug auf unsere jüngste Tochter. Ich dachte: Jetzt hat sie schon mit den Ohren Probleme, mit dem Skelett, aber bitte nicht noch die Augen. Das dachte ich auch noch, als wir beim Augenarzt saßen. Und der Augenarzt testete und testete, und weil Sophia so schön mitmachte, testete er noch ein bisschen weiter. Und dann sagte er, dass Sophia leider sehr stark kurzsichtig sei (auf beiden Augen um die 8 Dioptrien). Und ich dachte: „Noch ein Ersatzteil.“ Nun war eingetreten, was ich mir als so furchtbar vorgestellt hatte.
Seit ein paar Wochen ist das neue Ersatzteil nun in Betrieb, sprich auf Sophias Nase. Nach einem Tag Testen (der Baum mit und ohne Brille, der Bruder mit und ohne Brille, das Buch mit und ohne Brille) war für sie klar: Die Brille bleibt drauf. Das für mich nicht Vorstellbare ist zum Normalen geworden, hat seinen Schrecken verloren. Und ich habe eine Lektion gelernt. Das Leben fragt mich nicht danach, was ich will oder mir vorstellen kann. Es legt es mir vor. Und dann ist es an mir, allem die richtige Dimension in meinem Leben oder dem meiner Kinder zu zuweisen.
Der Augenarzt sagte übrigens zu mir: „Ich bewundere Sie, wie Sie damit umgehen. Mit Ihrem Kind und mit der Situation. Sie nehmen das einfach so an.“ Mir war das gar nicht bewusst, aber anscheinend war ich unbewusst schon weiter als in meinen bewussten Gedanken. Mit meinem Satz, „Noch ein Ersatzteil.“, hatte ich der Brille den Platz zugewiesen, der ihr zusteht.
Trotzdem ist die Spannung groß. Mit einem behinderten Kind lebt man immer in zwei Welten. Einerseits ist das Kind ganz natürlich in der „normalen“ Welt. Bis dahin, wo seine – in unserem Fall – körperlichen Grenzen sind. Und dann fällt man sehr schnell aus dieser Welt heraus. Zum Beispiel im Gottesdienst, wenn die Musik zu laut ist – zu laut für einen kleinen Menschen mit einem Hörgerät. Oder bei einem Fest mit einer Hüpfburg – die unser kleiner Mensch zwar locker bewältigen würde, aber nicht mit vielen anderen Kindern auf derselben Hüpfburg. Und dann frage ich mich immer wieder, wie viel „normale“ Welt ich meinem Kind zumuten (oder zutrauen) soll. Fühlt es sich positiv herausgefordert – oder frustriert? Irgendwie denke ich über alles viel mehr nach. In einem Buch habe ich gelesen, dass man als Eltern von behinderten Kindern seine natürliche Erziehungskompetenz ein Stück weit verliert, weil man sich über alles doppelt viele Gedanken macht. Einfach so alles auf einen zukommen lassen, das geht nicht. Und so hangeln wir uns durchs Leben und versuchen diese Spannung auszuhalten. Mal geht es besser, mal schlechter. Mir hat es geholfen zu sehen, dass ich in meinem vielen Nachdenken rund um mein Kind normal bin. Und dass es normal ist, in dieser Spannung zu leben. Das macht die Spannung nicht kleiner, aber es relativiert sie.
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