Loslassen
Unsere Lilli bekommt morgen die Polypen herausoperiert. Das ist ein Routineeingriff von gerade mal einer viertel Stunde. Ich weiß. Keine große Sache. Und trotzdem schlägt mein Herz schneller, wenn ich an die OP morgen denke und ich wünschte, ich könnte meiner Tochter die ganze Zeit die Hand halten. Sie während des Eingriffes alleine zu lassen, bereitet mir Bauchweh.
Ich merke, dass es mir nicht leicht fällt los zulassen und mein Kind in die Obhut von einem Arzt und einem Anästhesisten zu geben, die ich nicht persönlich kenne. Ich fühle mich ein wenig daran erinnert, wie es war, als ich das erste Mal meine Große im Kindergarten ablieferte. Furchtbar! Oder als ich das erste Mal ohne Kinder für ein Wochenende verreiste. Grauslich.
Seit meine Kinder auf der Welt sind, entfernen sie sich jeden Tag ein kleines Stückchen mehr von mir. Das fällt mir in der Regel nicht auf – es wird mir nur dann bewusst, wenn irgendein großes Ereignis passiert: der erste Wackelzahn, der erste Schultag. Dann gehen mir plötzlich die Augen auf und ich lasse die wenigen Lebensjahre meines Kindes Revue passieren und kann kaum glauben, wie schnell die Zeit vergeht! Dann bin ich kurz melancholisch und nehme mir vor, ab jetzt viel mehr die gemeinsamen Momente zu genießen – und finde mich doch allzu schnell im Alltagstrott wieder.
Es ist wirklich so: die Zeit vergeht wie im Fluge. Ehe wir uns versehen, werden unsere kleinen Küken flügge und wir werden etwas verdattert zurückbleiben. Wir werden uns wünschen, mehr mit ihnen gespielt zu haben. Ihnen besser zugehört zu haben. Vielleicht werden wir uns sogar wünschen, früh morgens von Kindergeplapper geweckt zu werden. Okay, vielleicht auch nicht.
Diese OP ist für mich ein Meilenstein in meiner Beziehung zu Lilli. Ich sehe sie noch vor mir als kleines Baby und höre ihr erfrischendes Babylachen. Ich denke darüber nach, wie sehr sie unsere Familie bereichert mit ihrem mitfühlendem Herz, ihrem quirligen Humor und ihrer hilfsbereiten Art.
Wir Mamas brauchen solche Meilensteine. Wir müssen ab und zu innehalten und uns wieder bewusst machen, welch große Schätze uns umgeben. Welch Reichtum! Wir müssen immer wieder in uns gehen und uns unsere Kinder ganz genau ansehen. So als würden wir ihnen das erste Mal begegnen. Ihr Lächeln ganz neu in uns aufnehmen. Mit unserem Finger die feinen Gesichtszüge nachmalen. Staunen über so viel Gnade, dass dieses Kind mir anvertraut ist.
Natürlich werde ich mir morgen nichts von meiner Nervosität anmerken lassen. Ich werde die mutige Löwenmama sein, die für ihr Kind da ist, komme was da wolle. Aber sobald Lilli im OP Saal ist, werden mir die Tränen kommen, das weiß ich jetzt schon. Ich werde ganz intensiv spüren, wie wertvoll mir dieses kleine Leben ist. Und ich werde beten, was ich immer bete, wenn ich meine Kinder loslassen muss, sei es für den Schulweg, den Kindergartenvormittag oder wenn sie wieder auf diesen großen Baum klettern,der vor unserem Haus steht: ‚Herr, du hast deinen Engeln befohlen, dass sie mein Kind behüten.‘